Vom Gedicht „Verklärte Nacht“ zur Komposition

Schönberg komponierte sein Werk „Verklärte Nacht“ für Streichsextett im Herbst 1899 während eines Ferienaufenthalts im niederösterreichischen Payerbach. Der Pianist und Komponist Eduard Steuermann, ein Schüler Schönbergs, schuf 1932 die Transkription für Klaviertrio, die wir in unserem Prima Volta Konzert mit dem Trio Rafale hören.

Die Komposition ist eine Programmmusik. Es ist die inhaltliche Vertonung des Gedichtes „Verklärte Nacht“ von Richard Dehmel. Das fünfstrophige Gedicht beschreibt den Gang eines Paars im Mondschein, bei dem die Frau ihrem Liebhaber gesteht, dass sie von einem anderen ein Kind erwartet. Dabei trifft sie auf großmütiges Verständnis ihres Liebhabers, der das Kind als eigenes annehmen will. Doch lesen Sie selbst:

Verklärte Nacht.

Zwei Menschen gehn durch kahlen, kalten Hain;
der Mond läuft mit, sie schaun hinein.
Der Mond läuft über hohe Eichen,
kein Wölkchen trübt das Himmelslicht,
in das die schwarzen Zacken reichen.
Die Stimme eines Weibes spricht:

Ich trag ein Kind, und nit von dir,
ich geh in Sünde neben dir.
Ich hab mich schwer an mir vergangen;
ich glaubte nicht mehr an ein Glück
und hatte doch ein schwer Verlangen
nach Lebensfrucht, nach Mutterglück
und Pflicht – da hab ich mich erfrecht,
da ließ ich schaudernd mein Geschlecht
von einem fremden Mann umfangen
und hab mich noch dafür gesegnet.
Nun hat das Leben sich gerächt,
nun bin ich dir, o dir begegnet.

Sie geht mit ungelenkem Schritt,
sie schaut empor, der Mond läuft mit;
ihr dunkler Blick ertrinkt in Licht.
Die Stimme eines Mannes spricht:

Das Kind, das du empfangen hast,
sei deiner Seele keine Last,
o sieh, wie klar das Weltall schimmert!
Es ist ein Glanz um Alles her,
du treibst mit mir auf kaltem Meer,
doch eine eigne Wärme flimmert
von dir in mich, von mir in dich;
die wird das fremde Kind verklären,
du wirst es mir, von mir gebären,
du hast den Glanz in mich gebracht,
du hast mich selbst zum Kind gemacht.

Er faßt sie um die starken Hüften,
ihr Atem mischt sich in den Lüften,
zwei Menschen gehn durch hohe, helle Nacht.

Inhalt und Botschaft der „Verklärten Nacht“ sind moralisch. Das Gedicht behandelt die sexuelle Untreue und die Möglichkeit zu vergeben. Es geht Richard Dehmel in erster Linie um die Tatsache, dass moralische Entscheidungen immer zutiefst menschliche Entscheidungen sind. Nichts kann uns diese abnehmen. Es gelingt Dehmel im Gedicht eine höhere Instanz als Moral einzuflechten. Eine, der keiner widersprechen kann: die Natur. In der Nacht sind alle Katzen grau und es verschwinden alle Unterschiede. Das Grau wird poetisch verwandelt in den Glanz der nächtlichen Natur, der alle Differenzen überstrahlt: „o sieh, wie klar das Weltall schimmert“.

Diesem Programm der Auflösung eines moralischen Problems in ein Phantom leuchtender und schimmernder Natur folgt die Komposition Schönbergs.